Knapp 83 Millionen Einwohner, die weltweit beste Fußballinfrastruktur und trotzdem hängen in deutschen Kinderzimmern überwiegend Poster und Trikots von Spielern aus anderen Fußballkulturen. Natürlich ist das eine etwas überspitzt formulierte Hypothese von uns. Mit Sicherheit stehen aktuell auch Spieler wie Leroy Sané, Serge Gnabry oder Kai Havertz bei den fußballbegeisterten Kindern unseres Landes hoch im Kurs. Doch verfolgt man die Entwicklung des internationalen Fußballs, denkt man in dieser Hinsicht wohl weiterhin eher an die Messis, Ronaldos, Mbappés und Neymars dieser Welt. Ein Problem, das den Verantwortlichen des DFB nicht entgangen ist. Nicht umsonst mahnt Oliver Bierhoff, seines Zeichens Direktor für Nationalmannschaften und Akademie, seit Monaten immer wieder öffentlich an, dass es den deutschen Talenten im internationalen Vergleich an Kreativität und Individualität fehle [1,2]. Doch woran liegt das? Sind das wirklich einfach kulturelle, allgemeingesellschaftliche Aspekte, die dieser Hypothese zugrunde liegen oder hat es vielleicht doch eher mit der Art und Weise zu tun, wie wir in Deutschland über Fußball denken und unsere Nachwuchsspieler ausbilden?
Schauen wir uns doch das Training in den verschiedenen Ländern einmal an. Die Wissenschaftler André Roca und Paul R. Ford haben 2020 in ihrem Versuch, landesspezifische Muster in der Trainingsgestaltung auszumachen, Trainingseinheiten in 16 verschiedenen, professionellen Jugendakademien aus Deutschland, England, Portugal & Spanien beobachtet und ausgewertet. Insgesamt untersuchten sie 83 Trainingseinheiten in den Altersklassen von der U12 bis zur U16. Die Ergebnisse dieser Analyse könnten uns als eine von vielen guten Erklärungen für den Mangel an Kreativität und Individualität in Fußballdeutschland dienen. Offensichtlich verbringen die deutschen und englischen Spieler signifikant weniger Zeit in Spielformen, in denen sie eigene Entscheidungen treffen müssen, als die spanischen und portugiesischen Talente (Abb. 1). Die dadurch frei gewordene Zeit wird hierzulande vor allem für das Athletiktraining ohne Ball genutzt, während in England das isolierte Techniktraining im Vordergrund steht [3].
Wir können keine kreativen Lösungen im Wettkampf von den Spielern erwarten, wenn wir sie im Training nicht oft genug in die Lage versetzen, das Spiel auch wirklich zu spielen. Während wir noch immer bedeutende Teile der wertvollen Trainingszeit mit isoliertem Technik-, Fitness- oder Taktiktraining „verschwenden“, haben die Länder aus dem iberischen Raum das Fußballspiel schon lange als ein komplexes, dynamisches System verstanden, das im Training nicht in seine Einzelteile fragmentiert werden kann. Folglich ist es nur die logische Konsequenz, dass in diesen Fußballkulturen erfolgreicher und besser ausgebildet wird. Auch diese These lässt sich schnell belegen. Im November 2020 erschienen die Ergebnisse einer Untersuchung, in deren Rahmen sich britische Buchmacher mit der Frage auseinandersetzten, welche Jugendakademien auf der Welt die meisten aktuell in den fünf größten europäischen Topligen spielenden Profifußballer hervorgebracht haben [4]. Bei jedem Spieler aus der Bundesliga, La Liga, Ligue 1, Premier League und Serie A wurde allerdings nur diejenige Akademie berücksichtigt, für die er unmittelbar vor seinem 16. Geburtstag spielte. Der Aufbau der Untersuchung unterliegt dementsprechend Limitationen, die nichtsdestotrotz kaum bis keine Auswirkungen auf eine länderzentrierte Interpretation der Ergebnisse haben. In Abbildung 2 können Sie die 25 Jugendakademien sehen, aus denen die meisten Profifußballer entsprungen sind.
Während aus dem iberischen Raum neun Akademien vertreten sind - sieben aus Spanien und zwei aus Portugal -, stammen mit dem 1. FC Köln und dem VfB Stuttgart nur zwei Leistungszentren aus Deutschland. Italien und England kommen auf immerhin eine Akademie mehr, Frankreich gehört mit sieben Vereinen, ebenso wie Spanien, zur europäischen Spitze. Sicherlich könnte man im nächsten Schritt diese - nicht nur auf den ersten Blick - erschütternden Daten für den deutschen Nachwuchsfußball etwas entkräften, indem man sich die prozentuale Verteilung von Legionären und Nicht-Legionären in den Ligen genauer ansieht, aber es geht uns hier ja nur um eine Tendenz. Eine Tendenz, über die in den vergangenen Wochen und Monaten auch medial sehr viel berichtet wurde. Aussagen, wie die des damaligen Trainers der deutschen U21-Nationalmannschaft Stefan Kuntz im „Kicker meets DAZN“-Podcast, haben die öffentlichen Diskussionen zuletzt angeheizt. Kuntz antwortete damals auf die Frage, wie er den deutschen Nachwuchs im Vergleich zum europäischen Ausland sehe, wie folgt: „Wir sind sowas von abgeschlagen.“ [5] Dass viele seiner Kollegen beim DFB in die gleiche Kerbe schlagen und das mit einer ähnlichen Schärfe formulieren, ist wenig verwunderlich. Der DFB hat die Zeichen der Zeit erkannt, wenn auch - wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden - möglicherweise zu spät und versucht nun ganz bewusst eine Krisenstimmung zu erzeugen, um eingefahrene Strukturen und Herangehensweisen aufbrechen und verändern zu können [6,7]. Veränderung erreicht man bekanntermaßen nur, wenn sie eine große, spürbare Belohnung verspricht oder wenn man kurz vor dem Abgrund steht. So oder so, Veränderung ist genau das, was der deutsche Fußball jetzt braucht!
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