Trainer, Scouts, Vereine, Verbände, Berater. Viele Parteien im Nachwuchsfußball stehen vor der Frage: Wer hat Talent und wer nicht? Das Talentverständnis beeinflusst zahlreiche Entscheidungen, die im Jugendfußball getroffen werden müssen:
Wird ein Spieler in die Auswahl berufen? Welche Kinder werden übernommen? Welche müssen gehen? Wer wird gefördert und wer nicht?
Definition Talent:
„Ein Talent ist eine Person, die sich noch in der Entwicklung zur individuellen Höchstleistung befindet und von der man begründbar annimmt, dass sie Spitzenleistungen in ihrer Domäne erreichen kann.” (Nach Güllich et al., 2013)
Hochgelobte Talente, die nicht an die Leistungen in der Jugend anknüpfen können. Jeder kennt Karriereverläufe von Fußballern, die wider Erwarten im Erwachsenenalter keine Leistungsträger mehr sind.
Es gibt natürlich auch Beispiele, die in die entgegengesetzte Richtung gehen. Rasmus Ankersen beschreibt dies in seinem Buch „The Gold Mine Effect“ an einem sehr anschaulichen Beispiel. In seiner Zeit als Trainer in der Akademie beim FC Midtjylland, führte sein Chef eine anonyme Befragung durch.
Jeder Akademie-Trainer sollte fünf Spieler auf einen Zettel schreiben, von denen er glaubt, dass sie in den nächsten fünf Jahren die größte Entwicklung machen. Die acht Trainer hatten 16 Spieler zur Auswahl. Keiner der Trainer nannte Simon Kjaer - den Spieler, der fünf Jahre später im Alter von 19 Jahren für 4 Mio. € in die Serie A wechselte. Heute hat Simon Kjaer insgesamt 42 Mio. € Transfererlös eingespielt.
Die veraltete Annahme, ein Talent ist derjenige Spieler, der als Jugendlicher überdurchschnittliche (Wettkampf-) Leistungen abruft, trifft also nicht auf alle Spieler zu. Also muss dieser statische Talentbegriff erweitert werden. Neben der aktuellen Leistung im Entwicklungsalter muss auch das Entwicklungspotential miteinbezogen werden.
Betrachtet man nun die beiden Größen 'Potential' und 'aktuelle Leistung' separat voneinander, ergeben sich vereinfacht vier Profile:
Das shouting talent und den Erwarteten Nicht-Erreicher zu identifizieren stellt kein Problem dar. Interessanter wird es bei whispering talents und unerwarteten Nicht-Erreichern. So können unter anderem Alterseffekte die Bewertung der aktuellen Leistung im Jugendbereich verzerren. Bei Vardy war das im Vergleich zu seinen Mitspielern geringe biologische Alter entscheidend für die Ausmusterung. Werden vermehrt biologisch frühreifere Kinder selektiert und geförtdert, manifestiert sich dies meist in einem so genannten Relative Age Effect (Hier gibt es mehr zum Thema).
Im Nachhinein ist für jeden klar: Jamie Vardy wegen seiner Körpergröße auszusortieren war ein Fehler. Steht man aber als Trainer vor der Entscheidung ist es nicht immer ganz so eindeutig. Entscheidungshilfe kann die Erfassung und Berücksichtigung mehrerer Daten, wie psychologische Faktoren, das biologische Alter oder die Sportbiografie, darstellen. „Es geht nicht um die Leistung – es um die Geschichte hinter der Leistung“, beschreibt es Ankersen anschaulich. Warum ruft der Spieler gute Leistungen ab? Ist er einfach nur reifer – den Gegen-/ und Mitspielern körperlich überlegen? Oder ist er besser, weil er länger auf hohem Niveau trainiert? Wähl ich den Spieler aus, der zwar momentan schlechter ist, von dem ich aber erwarte, dass er eine höhere Entwicklungsreserve hat?
Gerade im Fußball ist die Leistungsanforderung und -entwicklung derart komplex, dass keine pauschale Antworten möglich sind. Trainer sollten jedoch zumindest für die Thematik sensibilisiert werden. Im nachfolgenden Video seht ihr die wichtigsten Erkenntnisse aus "Gold Mine Effect" grafisch aufbereitet.
Güllich et al. (2013). Talente im Sport. In Güllich, A. & Krüger, M. (Hrsg.). Sport. Das Lehrbuch für das Sportstudium. Springer: Heidelberg.
Ankersen (2012). The Gold Mine Effect: Crack the Secrets of High Performance. Icon Books: London.